Die 90er oder wie der Haarlack aus meiner Tasche verschwand und wieder zurückkehrte...
Das Ende der 80er bedeutete für mich
nicht nur das Ende meiner Schulzeit, sondern stellte auch den Anfang
vom Ende meiner aktiven Zeit in der schwarzen Szene dar. Mit dem
Abitur eröffneten sich mir endlich die Wege, die ich immer schon
einschlagen wollte, fernab von den täglichen Grabenschlachten und
Wortgefechten in den Gängen unseres Dorfgymnasiums, fernab von der
beschränkten Welt und den Zwängen der Schule, die ich nur
durchgestanden hatte, um meinen Traumberuf erlernen zu können...
Mein Freundeskreis änderte sich
zwangsläufig in jener Zeit.
Das, was uns während der Schulzeit
zusammengeführt hatte, war zum großen Teil hinfällig geworden: wir
waren keine Außenseiter im Verband unserer Jahrgangsstufe mehr, eine
Handvoll Eigenbrötler, die aus dem Rahmen fielen und sich genau
dadurch selbst definierten, die sich abgrenzen wollten und ihren
Klassenkameraden hin und wieder gerne Uniformität unterstellten und
die Monotonie ihres aus unserer Sicht öden Seins unter die Nase
rieben.
Ja, auch ich kann mich und besonders
mein Teenie-Ich nicht davon freisprechen, Leute in Schubladen zu
stecken bzw. gesteckt zu haben. Und mit der viel beschrienen Toleranz
der Schwarzgewandeten war es zumindest in unserem dunkelbunten Umfeld
nicht weit her. Wir waren damals Kinder und diesen noch nicht ganz
fertigen Menschen sind Eigenschaften wie Verständnis und Nachsicht
im Umgang mit ihren Mitmenschen doch ziemlich
fremd. Im Gegenteil, wir waren stolz darauf,
nicht so zu sein wie alle anderen und blickten sogar mit einem
Quentchen Hochmut auf diese langweiligen Normalos herab.
Das Anderssein einte uns – anders im
Hinsicht auf die Musik, die wir hörten, die Bücher, die wir lasen,
die Themen, die wir diskutierten, die Orte, die wir aufsuchten, die
Interessen, die wir teilten. Nicht zuletzt dienten Kleidung,
Haartracht und Make-up der Visualisierung der gewaltigen Kluft, die
uns in jeglicher Hinsicht von den anderen trennte.
Diese Kluft war plötzlich nicht mehr
vorhanden, nach dem Schulabschluß zerbrach der Klassenverband und
ich mußte mich neu orientieren.
Ich begann das ersehnte
Ägyptologiestudium und traf andere Ägyptenverrückte, mit denen ich
mich austauschen konnte, hatte einen guten Nebenjob in einer
Arztpraxis (eine weiße Kluft war unumgänglich), und der Kontakt zu
meinen alten Freunden brach langsam, aber sicher ab.
Meine Vorliebe für schwarze Kleidung,
Horrorliteratur und -filme und mein Musikgeschmack änderten sich
zwar nicht, jedoch kamen andere Interessen hinzu: mein Horizont
erweiterte sich und damit verschoben sich meine Prioritäten. Was in
den 90er Jahren in der schwarzen Szene passierte, ist größtenteils
an mir vorbeigegangen bzw. weiß ich nur vom Hörensagen. Ich hielt
mich damals im wesentlichen in der Uni oder an meinem Arbeitsplatz
auf und fuhr, so oft es mir möglich war, nach Ägypten (Pikes sind
nicht sehr zweckmäßig, um in Gräbern herumzukrauten und schwarze
Klamotten sorgen im Hochsommer im Luxor nur für einen
Kreislaufkollaps). Außerdem pflegte ich verstärkt eines meiner
Hobbies: die Darstellung einer Klingonin aus Star Trek. Im Nachhinein
sehe ich zwischen meiner schwarzgewandeten Klingonin und dem
gruftigen Teenager, der ich einmal war, einige Parallelen. Nicht nur,
daß ich die Einzige in meinem damaligen Umfeld war, die einer solch
exotischen Freizeitbeschäftigung nachging, ich suchte und fand
dadurch neue Freunde und Bekannte, denen es ebenso Spaß machte, sich
die Kostüme und Masken, die man für eine ordentliche Darstellung
brauchte, selbst zu nähen und zu fabrizieren. Wie oft haben wir
Nerds, von den Briefmarken sammelnden Normalos spöttisch belächelt, gemeinsame Basteltage
verbracht, Maskenbildnertipps ausgetauscht und uns beim Schminken und
Maske/Kostümanlegen geholfen, bevor es auf eine Convention ging! Ja,
auch da hatte ich Haarlack dabei, um die struppige
Klingonenkreppfrisur, die doch ein wenig an den Zottellook meiner
Gruftizeit erinnerte, den Tag überstehen zu lassen!
Ein wenig war es wie früher, als man
sich seine Gruftklamotten selber nähte und seinen Nietenschmuck
selbst zusammendrosch, sich beim Toupieren der Haare helfen und von
der Freundin den Lidstrich ziehen ließ...
Nur war die Klingonin nicht mehr als
eine Verkleidung für mich, die mich aus dem Alltag ausbrechen und in
eine andere Rolle schlüpfen ließ, der Grufti (oder meinetwegen auch
Goth) jedoch ist tief in mir verwurzelt. Er ist ein Teil meines Ichs,
ein ziemlich eigensinniger Teil, der gerne gegen gesellschaftliche
Zwänge rebelliert, aber mittlerweile
akzeptiert hat, daß es unumgänglich ist, sich hin und wieder den
gängigen Normen anzupassen – wenigstens ein Stück weit – und
der durchaus in der Lage ist, zu erkennen, wann man besser die Pikes
und Nietengürtel im Schrank zu lassen hat.
Im Grunde ist dieser Teil in den 80ern
stecken geblieben. Mag sich die schwarze Szene auch weiterentwickelt
haben, ich bleibe meinem altmodischen Gruftstyle treu. Mit Cybergoths
kann ich nichts anfangen, die sind mir zu bunt und zu schrill und was
Steampunk mit Gothic zu tun hat, erschließt sich mir auch nicht. Da
bin ich konservativ. Überhaupt schaue ich mir mit Staunen und
teilweise offenem Mund an, was es so alles für den Gothic von heute
und die kuriosen Ableger, die die schwarze Szene getrieben hat, zu
erwerben gibt. Und mehr als einmal habe ich mich schon bei dem
Gedanken „Das hätte es damals bei uns aber nicht gegeben!“
ertappt. Naja, leben und leben lassen und wer Spaß am pinkfarbenen
Schläuchen mit blinkenden LEDs auf'm Kopf hat, dem sei der von
Herzen gegönnt!
Wenigstens brauche ich bei diesen
Cybergoths keine Angst zu haben, daß sie mir ein Paar Pikes vor der
Nase wegschnappen und die Ruhe auf meinem Friedhof stören! ;-)
P.S.: Wenn ich von „wir“ oder „man“
schrieb, meinte ich damit nicht generell die schwarze Szene, sondern
ausschließlich meinen damaligen Freundeskreis und meine Wenigkeit.
Bei „den anderen“ handelt es sich dementsprechend um Mitschüler,
Kommilitonen, Kollegen, Verwandte etc. Kurz: die Typen aus den
Schubladen „Popper“ und „Normalo“ :-D
Liebe Gothmum,
AntwortenLöschenhiermit danke ich Dir ganz herzlich und in aller mir gebotenen Demut für das Teilen deiner Erinnerungen. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wieder jemanden zu lesen der seine Erfahrungen gerne teilt und sich nicht sträubt. Meine Erinnerungen gehören mir, das ist mir peinlich, das ist nicht jugendfrei, da hängt zuviel Herz darin... Du kannst Dir nicht vorstellen was ich mir schon alles anhören musste. Und dann findet sich so mir nichts dir nichts eine E-Mail von einer guten Freundin in meinem Postfach und weist mich auf dieses Refugium der Erinnerung hin. Großartig.
Aprospos vorstellen, meine Name ist Robert und ich blogge selber und bin schlichtweg begeistert von der Art und Weise wie du Deine Erinnerung zu "Papier" bringst. Hiermit bitte ich höflichst um eine Kontaktaufnahme via E-Mail, da ich noch ein paar Fragen zu Deiner Vergangenheit habe und überhaupt meine Neugier stillen will.
Und ja, trotz meines gehobenen Alters, der schwindenden Haarpracht und sonstigen Alterserscheinung habe auch ich Haarlack in der Tasche. Immer noch ;)
Hallo Robert,
Löschenich kenne Deinen Blog und lese still und heimlich schon einige Zeit mit. ;)
Tut mir leid, daß ich jetzt erst antworte, aber bei uns hat das Elend, äh, die Schule wieder angefangen und die Kinder mussten erst einmal eingenordet werden.
Eine Email von mir sollte gerade in Deinem Postfach gelandet sein!
Viele Grüße!